Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 02.01.2001

Der Glaube an den Überschwang

Beethovens „Neunte“ im Neujahrskonzert des Kieler Philharmonischen Orchesters

Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie immer neu. Ludwig van Beethovens letzte vollendete Symphonie hält in ihrer Größe, ihrer epochalen Bedeutung und ihrem musikalischen Reichtum der turnusmäßigen Wiederkehr abnutzungsfrei stand. Die „Neunte“, in d-Moll op. 125, stand am feierlichen Montag Abend wieder auf dem Sonderprogramm des Philharmonischen Orchesters Kiel und läutete unter viel Beifall des herbeigeschlitterten Publikums im Kieler Schloss den tatsächlichen Milleniums-Wechsel ein.

Ihr feuertrunkener Finaljubel, der manches sperrig Rätselhafte in den ersten Sätzen überdeckt, passt nach wie vor wunderbar zum vorsatzschwangeren Hochgefühl des Neuen Jahres. Zumal, wenn solches nahezu in einem Atemschwung mit Beethovens rasanten Tempo-Vorstellungen geschieht, die der Komponist sehr genau in Metronom-Angaben fixiert hat. Nicht wenige Dirigenten haben des Meisters Pulsgeber für defekt gehalten oder finden die reine Im-Kopf-Vorstellung des Ertaubten für realitätsfern. Windfuhr aber glaubt fest an den Überschwang, die positive Hektik, das heftige Weltumarmen auf Schiller-Basis und treibt seinen musizierenden Mitstreitern den Schweiß auf die Stirn. Doch das schleudergefährdete Experiment, das drängende Taktschlägereien und ihre reaktionsschnellen Echos bedeutungsvollem Ausformulieren vorzieht, gelingt überzeugend.

Von den mit Beethovens Rückendeckung relativ streng durchgezogenen Rezitativen der tiefen Streicher an bis zum schließenden Tutti-Taumel stimmen die Relationen, schlägt Beethovens Emphase nie in ranziges Pathos um. Tenorsolist Burkhard Ulrich lässt leichtfüßig die Sonnen fliegen und kaschiert so, dass es ihm eigentlich an heldischer Durchsetzungskraft mangelt, ihm gar an diesem Abend ein wenig die rechte Disposition für die gefürchteten Solo-Passagen fehlt. In das allemal gute Solisten-Quartett hängt er seine Stimme ebenso dienlich und dezent zwischen die Eckpfeiler ein wie die lyrische Mezzosopranistin Gro Bente Kjellevold. Des Basses Grundgewalt und einen imposanten „O Freunde“-Auftritt steuert Kiels Kammersänger Hans Georg Ahrens bei. Birgit Eder schließlich, eingesprungen für die erkrankte Kieler „Ensemblenovizin“ Manuela Uhl, erinenrt in ihrer (zumal im schnellen Tempo hoch schwierigen) Sopranpartie daran, dass wir das Verdi-Jahr feiern dürfen.

Der Städtische Chor, zumal einmal mehr potenziert durch stimmkräftige Profi-Schützenhilfe vom Chor der Bühnen der Landeshauptstadt Kiel, lässt wenig Wünsche offen. In der Einstudierung von Jaume Miranda, der den Städtischen Chor schon bald an den Korrepetitor Alexander Stessin abgeben will, nehmen Wendigkeit und Diktion für sich ein. Im Orchester glitzert und gleißt es. Ein mitreißendes Finale also.

Das kann man, wie schon vor zwei Jahren, von den vorangehenden Sätzen nur sehr bedingt behaupten. Windfuhr lässt etwa im – zugegeben stets heiklen – „Adagio“ zu viele melodische Details im Eisregen stehen. Immerhin gelingen in den Holzbläsern einige schöne Soli. Gerade weil immer wieder die Seele fehlt, wird nicht deutlich, wrum der Kieler Generalmusikdirektor hier deutlich hinter Beethovens Tempogefühl zurückbleibt, sich Zeit nimmt, ohne sie mit Sinn zu füllen. Das Scherzo hat immerhin Wucht, sein pausenloses Pulsieren wird aber nicht mit letzter Konsequenz durchgezogen. Als Hauptproblem erweist sich aber das Fehlen einer weiträumigen Lautstärke-Dramaturgie von Vorder- und Hintergrund, Haupt- und Nebenstimmen. Gerade der Kopfsatz wirkt dadurch allzu pauschal und lärmend. Er büßt sein Geheimnis ein. Nur gut also, dass ein Finale stets am Ende steht.

Christian Strehk

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