Kieler Nachrichten, 22.04.2024
VON MICHAEL STRUCK
KIEL. Da musste sogar der große Ludwig van Beethoven klein beigeben. Im Jahr 2000 wurden coronahalber viele Jubiläumsveranstaltungen zu seinem 250. Geburtstag abgesagt. Betroffen war auch das Festkonzert, in dem Mitglieder führender Kieler Chöre und das Philharmonische Orchester Beethovens Goethe-Vertonung „Meeresstille und glückliche Fahrt“ und die „Chorfantasie“ aufführen wollten.
Vier Jahre später sollte es nun am Sonntag im 6. Philharmonischen Konzert in der Wunderino-Arena endlich soweit sein – doch es gab erneut ein Problem: Generalmusikdirektor Benjamin Reiners sagte kurzfristig gesundheitsbedingt ab. So musste das Konzert dirigentisch in zwei Hälften aufgeteilt werden, was eindrucksvoll gelang.
Der erste Teil enthielt zwei Werke des Jahres 2018. Phänomenal gestaltete Kiels Soloklarinettist Ishay Lantner das Klarinettenkonzert Thorsten Enckes. In drei Teilen samt Epilog agierte die Klarinette mit dem Orchester auf wechselnde Weise Im eröffnenden „Call“ musste sie sich gegen das Kollektiv behaupten: mit höchsten Tönen, lebhaften Figuren und Monologen. Inspiriert durch die Vorstellung eines auf dem Wind schlafenden Vogels (nach Tenessee Williams), ließ Encke die Klarinette immer wieder vogelgleich tschilpen.
Im „Song“ entfaltete die Solopartie mit lang gehaltenen Tönen lyrische Intensität,wobei die schillernden Klangsäulen und markanten Impulse des Orchesters Gegenpart und raumgebenden Ereignis-Kosmos bildeten. Da herrschte im Saasl zauberische Intimität. Nach dem agilen „Dance“ führte der Epilog Elemente der drei Teile zusammen.
Der Komponist leitete sein Werk unaufgeregt-zielbewusst und wurde ebenso wie Lantner stark gefeiert – woraufhin es eine Solozugabe mit Telemanns 3. Flöten-Fantasie in leicht auffrisiertem Klarinetten-Look gab. Zuvor hatte Encke schon „Phantasma“ des estnischen Komponisten Erkki-Sven Tüür dirigiert. Das Stück ist (mehr im Inneren als an der Außenfläche) durch Beethovens „Coriolan“-Overtüre angeregt. Immer wieder stießen (wie bei Beethoven) starke Akzente das farbkräftige Orchestergeschehen an. Beethoven-Assoziationen lieferte auch ein zeitweise nach vorn drängendes Punktierungsmotiv.
Den Beethoven-Teil übernahm die Dortmunder Kapellmeisterin Olivia Lee-Gundermann. Sie wusste, was sie künstlerisch wollte, hielt das Orchester gleich bei den heiklen Anfangsschlägen der „Coriolan“-Ouvertüre gut zusammen und zog auch in den Werken mit Chor lebhaft-umsichtig die Fäden. Der langsame „Meeresstille“-Teil muss Spannung und Präzision halten, was dem 130-köpfigen Großchor (aus Mitgliedern von Philharmonischem Chor, Madrigal-, Universitäts- und Sankt Nikolai-Chor sowie Heinrich-Schütz-Kantorei, einstudiert von Gerald Krammer) erfolgreich gelang. Kaum ahnte man, wie heikel das Stück sich auch im zweiten Teil singt.
Ähnlich anspruchsvoll war die „Chorfantasie“, deren Weg von einer Art Klavierimprovisation in c-Moll über Orchester- und Kammermusik-Phasen bis zum chorisch gekrönten C-Dur-Schluss führte. Dort wurden die menschheitsveredelnden „Gaben schöner Kunst“ gepriesen. Andreas Hering musste gleich vom improvisatorischen Beginn an enorme pianistische Anforderungen meistern.
Die Variationen über ein der „Ode an die Freude“ ähnelndes Thema bezogen das Orchester lebhaft mit ein. Und im Schlussteil, dessen Soli hier ein Kleinchor sang, jubelten Chor, Orchester und Klavier unter Dirigentin Olivia Lee-Gundermanns vitaler Leitung nachhaltig und applausträchtig.
Ein Beethoven-Kuriosum war die Zugabe: der Anfangssatz der „Mondschein-Sonate“, vom Beethoven-Zeitgenosse Gottlob Benedict Bierey als c-Moll-„Kyrie“ für Chor und Orchester arrangiert.
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