Kieler Zeitung, 13.05.1930
Bach’s Hohe Messe in H-Moll.
Einen Vorgeschmack von den Herrlichkeiten, die uns im Herbst das Bachfest bringen wird, bekamen wir gestern mit der H-Moll-Messe. Das ist eins jener Werke des Meisters, vor denen man das Staunen nie verlernt, es gilt als das tiefste und gewaltigste, was Bach geschaffen hat. Wahrlich, da ist alles Größe, Erhabenheit; alles ist Aeußerung einer gewaltigen künstlerisch-geistigen Persönlichkeit, die sich in der Reinheit religiösen Bekennens offenbart und uns, die kleinen Menschen in die „Welt der großen und tiefen Gefühle“ entrückt. Ja, unergründlich tief, wie das religiöse Gemüt des Meisters ist die Wirkung. Offenbart sich hier das Wesen des alten großen Meisters, dessen Menschliches für uns so rätselhaft ist? Den Zeitgenossen mag es bedrückend gewesen sein, sie fühlten vielleicht hinter dem bürgerlichen Dasein dieses Kantors die unheimliche, unergründliche Welt, in der das Genie mit seinen Visionen allein war. Zwischen diesen Visionen und dem durchaus zufriedenen Familienleben, das Bach in unverwüstlicher Männlichkeit um zwanzig Köpfe vermehrte, klafft ein Abgrund, den wahrscheinlich nur er kannte; er, der mit seinem Gott in firnklarer Höhe allein war. „Gletscherkalte Einsamkeit dieses Weltwunders.“ — Zu uns Heutigen spricht der Meister über die Jahrhunderte hinweg. Und jedesmal, wenn wir einem seiner großen Werke nahen, empfinden wir die Größe und Kraft eines Menschen, dem Gott die Gnade gab, „in sich einig und unzerstörbar zu sein“.
In der H-Moll-Messe ist es der Inhalt des Katholischen Meßopfers: die mystische Verwandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Jesu Christi, die Bachs Genius zu herrlichen Offenbarungen beflügelt. In einer packenden Bilderreihe tritt uns die ganze Heilandsgeschichte vor Augen, eine Auseinandersetzung mit den Fundamenten der christlichen Lehre. Erstaunlich ist’s wie Bach auch zu den abstrakten und unmusikalischen Textstellen den musikalischen Weg bahnt. Man braucht sich nur einiger Wendungen des Credo zu erinnern. Da sind dogmatische Formeln, die sich der Musik ganz entziehen, denen sich wenig Stimmungsgehalt abgewinnen läßt. Bei diesen Stellen wird die ganze Größe Bachscher Kunst zum Greifen deutlich. Mit dem Glaubensbekenntnis ist der vorbereitende Teil der Meßhandlung abgeschlossen. Das Erflehte, Erhoffte, Geglaubte erfüllt sich in den folgenden Sätzen, in denen der Meister sich ganz dem Zauber des großen Mysteriums hingibt, um mit gesteigerten Mitteln (Sechsstimmigkeit im Sanctus) seine Stimmung auszuschöpfen.
Die Aufführung war festlich und feierlich. Sie zeichnete sich ebenso sehr durch Pracht und Fülle, wie durch ergreifende Innerlichkeit des Vortrages aus. Prof. Stein hat für derlei Dinge die besondere Ader und weiß vor allem seine Begeisterung auf die Mitwirkenden zu übertragen. Der Oratorienverein gab wiedermal einen Beweis seiner hohen Leistungsfähigkeit. Wohltätig beeinflußt wurde der Chorklang durch die Mitwirkung des Lehrergesangvereins, der das unentbehrliche Fundament solider Männerstimmen gab. Ein Ehrentag für diesen Verein, der die Aufführung als sein III. Abonnementskonzert ausgeben durfte. — Erlesene, mit dem Bach-Stil vertraute Solisten! Allen voran ist zu nennen Margarete Janda, die ihre klangvolle Altstimme mit fraulicher Weichheit handhabte. Annemarie Sottmann (Sopran) weiß die glänzende Ausweitung ihrer Stimme nach der Höhe wirkungsvoll auszunutzen und erfreut durch Ebenmaß der Tonbehandlung. Dr. Hans Hoffmann singt seine Partie mit Passion. Tiefe Beseelung des Vortrages zeichnet den Gesang Heins Kaisers (Baß) aus. Dazu unser in hoher Form spielendes Städt. Orchester. Oskar Deffner und H. J. Therstappen die Helfer an der Orgel und am Cembalo. Solistisch traten noch eine ganze Reihe unserer Kammermusiker hervor, von denen Ernst Trägers Leistung (Violinsolo im „Laudamus te“ und im „Benedictus“) hervorgehoben sei. Nicht zu vergessen des trefflichen W. Hilliger, der das gefürchtete Hornsolo im „Quoniam tu“ schlackenlos blies. — Die Kirche war überfüllt. Die ergriffenen Hörer beugten sich vor dem Ewigen, das ihnen im Werke eines Sehers, der da Macht hat, entgegentrat. Mß.
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Siehe auch Professor Hans Sonderburg.