Philharmonischer Chor Kiel

Volkszeitung, 13.12.1966

Die Jungfrau und der Engel

Händels „Jephta“ im 4. Konzert der Stadt Kiel und des VdM

Jephta: eine der musikalisch reichsten und differenziertesten Chor­tragödien von Händel als sinnvoller Beitrag zum Advent. Versöhnlich zeigt sich hier Händels mächtiger und streitbarer Gott. Zwar nimmt er Jephtas Opfer an: die eigne Tochter des Feldherrn, gehorsamfordernd ihm abverlangt für die Gnade gewonnener Schlacht — doch wie einst bei Abraham winkt er ab, da er Bereitschaft und Demut erkennt. Nahm er aber an Isaaks Stelle noch ein Böcklein, so begnügt er sich hier mit der Entsagung, dem Keuschheitsgelübde der (verlobten) Jungfrau. Ein Engel soll sie künftig unter Engeln sein. Nein, das ist nicht alttestamentarischen Geistes — und steht auch so nicht in der Bibel. Das ist nicht Opfer-Stellvertretung, sondern Opfer-Wandlung, ist durchaus neutestamentarisch, wie auch Wilhelm Pfannkuch in seinem knappen und klugen Programmtext feststellt. Jedenfalls hat Händels Librettist Morell den schon nicht mehr gesunden Komponisten mit diesem Stoff noch einmal zu einem großen Oratorium angeregt, zu einem Oratorium, dessen psychologische Durchzeichnung, dessen oftmals nach „innen“ verlegte Dramatik von Furcht und Leiden der sonst so robust heroischen Persönlichkeit ergreifend Zeugnis ablegt.

Natürlich bleibt Händel auch hier trotz allem ganz er selbst. Sein Rationalismus bleibt, es bleibt die Gewalt seines Gottes, es bleiben Kraft, Tugend und Herrlichkeit seines Volkes Israel, in dem das Volk Englands mit Prunk und protestantischer Sieggewißheit sich spiegeln konnte. Da gibt es keine Mystik, keine Metaphysik. Ein Engel zwar verkündet Gottes Willen. Doch dieser Engel ist — musikalisch — nur Bote; keine Aura umgibt ihn, kein Zug von Größe. Gott wird groß durch die Menschen, die ihn preisen, gegen ihn opponieren, sich ihm unter­werfen. Herrliche Rolle, die der Chor auch hier spielt: Volk, solidari­sches Kollektiv wie in der griechischen Tragödie, massiv, polyphon, Basis des ganzen Geschehens.

Ein schönes Werk also. Ein Werk, das nicht von ungefähr Günther Rennert und Caspar Neher zu einer Bühnenbearbeitung angeregt hat, die nach Stuttgart und Hamburg im vergangenen Sommer auch in Glyndebourne nachhaltigen Erfolg hatte. Hier, in der Kieler Aufführung, erschien es — bis auf wenige Höhepunkte, die von den Solisten kamen — vorwiegend langweilig. Zwar waren die Chöre (Städtischer Chor Kiel, verstärkt durch Mitglieder des Theaterchores) hervorragend studiert, zeigten auch Kraft, Möglichkeit einer gewissen Variabilität, blieben aber doch seltsam unplastisch, so wenig dramatisch, so wenig farbig wie die gesamte Aufführung.

Norbert Scherlich ist ein Chordirektor von hohen Graden; seit er an den Bühnen der Landeshauptstadt wirkt, erfüllt der Chor seine so wichtige musikalische Aufgabe wieder mit Intensität und Akkuratesse, ist immer so gleichmäßig gut, daß er (bei solchen Gelegenheiten bedaure ich es selbst) nie besonders hervorgehoben wird. Aber bei aller Musikalität ist Scherlich kein Dirigent. Was immer er an Differen­zierung erreichen will, er gibt die gleichen müden, schulmäßigen, in sich kaum variablen Zeichen. Die Vorarbeit ist gut, aber der „Abend­funke“, auf den sich so viele begabte Dirigenten nach der letzten, nicht ganz glücklichen Probe oft mit Recht verlassen, der fehlt ihm ganz. Dadurch wirkte das Oratorium viel gleichförmiger, als es in Wahrheit ist; verlockte zu sanftem Schlummer, was anregend, ja zuweilen aufrüttelnd hätte sein müssen.

Den Solisten — auch dem gepflegt musizierenden Orchester mit der soliden Continuo-Gruppe (Heinz Werner Faust, Cembalo; Edmund Nentwig, Cello; Paul Kuhlmann, Kontrabaß) — ist da kein Vorwurf zu machen. Martin Häusler sang die für seinen hellen Tenor oft allzu tief liegende Titelpartie lebendig und beseelt, besonders geschmeidig und ausdrucksvoll die in der Bedeutung zentrale Arie „Tragt sie, Engel“. Helen Bovbjergs schönem Sopran wieder zu begegnen war eine Freude; leuchtend im Ton, sinnvoll phrasiert, von schön ergebener Naivität war ihre Jungfrau Iphis. Deren durch das Edikt des Engels enttäuschenden Bräutigam sang (alte Fassung) Eleonore Reimers mit kultiviertem Mezzosopran, gegen den sich der dramatische Alt Regine Fonsecas als Mutter Storge kraftvoll, mit sinnlichem Timbre abhob. In der Mittellage sehr reizvoll, mit zu kräftigem Vibrato in der Höhe, der Sopran-Engel Gilda Uhlands. Und Carlos Fellers nuancenreich gebo­tene Rezitative (Zebul) ließen bedauern, daß für diesen Bariton keine Arie disponiert war.

Beifall nach beiden Teilen des Werkes. Die Müdigkeit im Publium war dennoch nicht zu übersehen. S.M.

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Siehe auch (R. G.)

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